Ganz still ist es unter den 10. Klässlern, als Janina Sachsenmaier, Theaterpädagogin und Schauspielerin, das Theaterstück DIE LETZTE O. mit einer Tonbandaufzeichnung ihrer 92-jährigen Großmutter Irmelin O. beginnt.
Mittels Overhead-Projektor werden dem Publikum anschließend alte Fotografien aus der eigenen Familie präsentiert. Eine Landkarte verortet das Geschehen geographisch. Und so erfahren wir über die Kindheit Irmelins in Danzig unter den Nationalsozialisten, ihrer Rekrutierung in ein RAD-Lager sowie die völlig überstürzte Flucht aus Ostpreußen aufgrund des Vormarsches der Roten Armee am Ende des Zweiten Weltkrieges sowie ihre Ankunft und das spätere Fußfassen im neuen Deutschland.
Immer wieder vermischen sich dabei collagenhaft Spielszenen mit biographischen Hintergründen, sodass ein biographisch-dokumentarisches Stück, eine Mischung aus Zeitzeugenbericht, Faktenreport und Spielszenen entsteht, was die Schüler von Anfang an in Bann zieht.
Ein altes Kofferradio, besagter Overhead-Projektor, zwei Tische, ein Berg aus Stühlen – weiße Laken darüber geworfen – mehr braucht es als Kulisse für das beeindruckende Theaterstück nicht, indem mosaikartig die wahre Fluchtgeschichte der Irmelin O. nacherzählt wird.
Dabei geht es nicht nur um Flucht und Neuaufbau, sondern auch um menschliche Stärke, dem Leben trotz Widrigkeiten mit Zuversicht zu begegnen.
Bereits am Ende der 9. Klasse beschäftigten sich die Schülerinnen und Schüler im Geschichtsunterricht mit dem Thema Flucht und Vertreibung unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Denn nach einem beispiellosen Eroberungs- und Vernichtungsfeldzug Nazi-Deutschlands im Osten, in dessen Verlauf Millionen von Polen, Tschechen und Russen sofort liquidiert oder durch Deportation und Zwangsarbeit physisch vernichtet wurden, um den Deutschen „Lebensraum“ zu verschaffen, kehrte sich nach 1945 die Situation um: Diesmal waren es knapp 12 Millionen Deutsche aus Ostpreußen, Pommern, Schlesien und dem Sudetenland, die sich in gewaltigen Flüchtlingsströmen gen Westen schoben, auf der Flucht vor der Roten Armee oder vertrieben von der zuvor unterworfenen Bevölkerung.
Und auch in der aktuellen Berichterstattung und Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler ist das Thema „Flucht und Vertreibung“ bedrückend präsent: Bilder von überfüllten oder gekenterten Flüchtlingsbooten, Familien, die mit Rucksäcken und Tüten ihre Heimat verlassen und auf der Flucht vor Krieg, Verfolgung oder materieller Not das vermeintlich schützende Europa zu erreichen hoffen, sind immer noch allgegenwärtig.
In einer ähnlichen Situation befand sich eben Irmelin O. Und so zeigt ihre Geschichte, die von ihrer Enkelin Janina Sachsenmaier und der Schauspielerin Julia Höhfeld künstlerisch nachgezeichnet wurde, ein beispielhaftes Familienschicksal, das nach 1945 12 Millionen Menschen betraf.
In der Nachbesprechung zum Theaterstück wurde deutlich, dass die 10. Klässler großes Interesse an den Hintergründen zur Familiengeschichte zeigten: Wie kamen Sie auf die Idee zum Stück? Welche Ziele wollen Sie damit erreichen? Wie ist die künstlerische Umsetzung zu verstehen? Entspricht der biographische Bezug der Wirklichkeit? – waren nur ein paar wenige Fragen, die den Schülerinnen und Schülern auf der Seele brannten und die im Anschluss an das Schauspiel von den zwei Damen bereitwillig erklärt wurden.
(Lisa Bär)